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Olympische Spiele in München - 1972

„The Games are awarded to: Munich!”

Rom, 26. April 1966: Hinter verschlossenen Türen berät das Internationale Olympische Komitee (IOC), wer die Sommerspiele 1972 ausrichten darf: Montreal, Madrid, Detroit – oder München? Die Anspannung bei den Delegationen: riesig. Nach dem dritten Wahlgang wird der Sieger verkündet. Mit dabei: Hans-Jochen Vogel, Oberbürgermeister von München.[1]

„Um 18 Uhr werden alle Delegationen in den Sitzungssaal gerufen. Beim Reingehen sehe ich, wie ein kanadisches IOC-Mitglied den Vertreter Montreals in die Arme schließt. War das eine Gratulation? Für mich eine Schrecksekunde. Doch Willi Daume, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) der Bundesrepublik, schaut mich an, ballt die Faust und streckt den Daumen nach oben. Ich weiß: Wir haben gewonnen.“
(Hans-Jochen Vogel)[2]

München hat die Spiele. Und ist davon selbst ein wenig überrascht: Man hatte sich erst sieben Monate vorher überhaupt für Olympia in München entschieden.[3]

Die Spiele in München sollen, 36 Jahre nach Olympia unter dem Hakenkreuz in Berlin und Garmisch-Partenkirchen, heiter werden: ein Fest des Friedens und der jugendlichen Leichtigkeit. Und das sind sie auch. Elf Tage lang. Bis sich am 05. September 1972 eine Katastrophe ereignet, die alles verändert.

Bauen für Olympia, bauen für München

Nach dem Zuschlag für Olympia heißt es: bauen, bauen, bauen. Münchens Sportstätten sind nicht für Olympische Wettbewerbe ausgerichtet, die Infrastruktur für den Transport von Menschenmassen ist nur rudimentär vorhanden.[4] Die baulichen Maßnahmen ermöglichen nicht nur Olympia 1972, sie machen München auch zur Metropole.

Spiele der kurzen Wege: Olympiagelände

Wo die Truppen schon im Königreich Bayern exerzierten, sollen jetzt heitere Spiele stattfinden.[6] Das Olympiagelände entsteht auf dem 280 Hektar[7] großen Oberwiesenfeld im Münchner Norden. Nach 1848 wurde das Gebiet verstärkt militärisch genutzt. Unter König Maximilian II. exerzierten dort Soldaten aus den nahegelegenen Kasernen. Später wurde das Oberwiesenfeld auch zum Flugplatz: Seit 1909 landeten Luftschiffe auf dem Gelände, bis in den Zweiten Weltkrieg hinein nutzte man den Platz als Militärflughafen. Nach Kriegsende wurden dort die Trümmer der Stadt abgeladen.[8] An den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus soll jetzt nichts mehr erinnern: Das Olympiagelände soll unpathetisch werden, weg vom monumentalen Gigantismus der Spiele von 1936.[9]

Wahrzeichen der Demokratie: Olympiastadion mit Zeltdach

Wer das Gelände gestalten darf, entscheidet ein Wettbewerb. Ein Entwurf des Architekten Günter Behnisch gewinnt. Das Paradestück der Olympia-Skyline: ein 74.800 Quadratmeter[10] großes, offenes Zeltdach. Es überspannt Olympiastadion, Schwimmhalle und Olympiahalle.[11] Das Dach wird zum meistdiskutierten Bauwerk der Spiele:[12] Als Modell spektakulär, aber ist es auch umsetzbar? Es folgen lange Debatten, zahlreiche Experten werden hinzugezogen. Schließlich gelingt es Ingenieur Otto Frei und seinem Team, das Dach zu bauen.[13]

Vorbild fürs Olympia-Zeltdach: der Deutsche Pavillon bei der Weltausstellung 1967 in Montreal. Ingenieur Fritz Auer, angestellt im Architekturbüro Behnisch, erinnert sich.[14]

Das Olympiagelände ist der Mittelpunkt der Spiele: Im Stadion bestaunen die Besucher Eröffnungs- und Schlussfeier, die Leichtathletik-Wettbewerbe und die Springreiter; auch Fußball wird dort gespielt. Der Star Mark Spitz krault in der Schwimmhalle. In der Eishalle, die für die Olympischen Spiele als Boxhalle umgebaut wurde[16],  stehen sich Boxer und Judokas gegenüber. Ebenfalls im Park angesiedelt: ein provisorisches Radstadion sowie die spätere Zentrale Hochschulsportanlage. Dort liefern sich die Volleyball- und Hockeystars Duelle.[17] 

Nach den Spielen bleibt das Olympiagelände ein lebendiger Ort. Im Stadion spielen lange Zeit die Profifußballer des FC Bayern München und des TSV 1860 München, heute wird es für Kultur- und Sportveranstaltungen genutzt. Das spektakuläre Zeltdach ist aus dem Münchner Stadtbild nicht mehr wegzudenken.

Ein (Olympia-)Dorf in der Großstadt

Die Sportler und ihre Betreuer wohnen nahe an den Wettkampfstätten im Norden des Olympiageländes. Private Träger und das Münchner Studentenwerk bauen ein autofreies „Dorf“ – drei bis zu 22 Stockwerke hohe Gebäude. Hervorstechend sind die hängenden Terrassen: Sie bieten den Bewohnern Sonne satt. Nach den Spielen leben im Olympiadorf vorwiegend Studenten.[18]

Von A nach B – öffentlicher Nahverkehr

Die Olympischen Spiele in München, das bedeutet auch: Menschenmassen aus aller Welt zu Besuch in der Landeshauptstadt. Der öffentliche Nahverkehr wird darauf ausgelegt – die wohl größte Chance für München auf dem Weg zur Metropole. Zwar ist der Bau der S- und U-Bahn bereits in Arbeit, wird durch Olympia aber erheblich beschleunigt. Zum Start der Spiele hat die U-Bahn 16 Kilometer Schienenstrecke und 17 Bahnhöfe. Die „Olympia-Linie“[19] U3 bringt die Massen vom Feilitzschplatz (heute Münchner Freiheit) zu den Wettkampfstätten auf dem Oberwiesenfeld (heute Olympiazentrum). Heute sind fast alle Stadtteile an die U-Bahn angeschlossen.[20]

Eine unterirdische Straßenbahn statt einer U-Bahn – was heute absurd klingt, ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein realistischer Plan. Hans-Jochen Vogel erinnert sich.[21]

Wettkampfstätten außerhalb von München

Zwar wollen die Organisatoren so viele Wettkämpfe wie möglich in München austragen, einige müssen sie aber in andere Städte auslagern. Das hat auch wirtschaftliche Gründe: So sollen auch andere, zum Teil strukturell schwächer aufgestellte bayerische Regionen gefördert werden. Passau, Ingolstadt, Regensburg und Augsburg erhalten Fußballspiele. Auch außerhalb von Bayern finden Wettkämpfe statt: In Böblingen, Göppingen und Ulm sind, genau wie in Augsburg, die Handballer am Werk. Die Athleten reisen dorthin in „rollenden Olympiadörfern“: In Sonderzügen der Bundesbahn lassen sie sich massieren, halten Konferenzen ab und ruhen sich in Liegewägen der ersten Klasse aus.[23]

Augsburg und Kiel – auch hier brennt das Olympische Feuer[24]

Kanufahren in Augsburg

Ein Neuling der Olympischen Wettkämpfe 1972: der Kanuslalom. Das geeignete Fahrwasser findet sich in Augsburg – auf dem parallel zum Lech verlaufenden Eiskanal. Dort gab es schon Kanu-Wettbewerbe, für Olympia muss die Strecke aber ausgebaut werden. Das erste Kanu-Slalom-Stadion der Welt kostet 15,6 Millionen D-Mark.[25] Am Ende stehen 660 Meter Strecke; Stromschnellen, Wirbel und Kehrwasser machen den Parcours turbulent und abwechslungsreich. Die Augsburger sind schon Monate vor den Spielen im Kanu-Fieber, schauen den Athleten beim Training zu und beobachten zu Hunderten die erste Flutung der Strecke. Auch an den beiden Wettkampftagen ist der Besucherandrang enorm, die Ehrentribüne voll besetzt: unter anderem mit dem Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel, CSU-Vorsitzendem Franz-Josef Strauß und Bundeskanzler Willy Brandt.[26]

Segeln in Kiel

München bietet als Olympiastadt so ziemlich alles – nur keine offene See. Die Segler müssen rauf in den Norden, nach Kiel. Hier entsteht für 90 Millionen D-Mark ein Segelzentrum. Am 29. August 1972 gehen Segler aus über 40 Nationen auf der Kieler Förde an den Start. Unter den Teilnehmern sind auch Promis: Prinz Harald von Norwegen, Spaniens Thronfolger Juan Carlos und Prinz Bira aus Thailand. Die Medaillen gehen aber an andere: Erfolgreichste Segelnation wird Australien (zweimal Gold). Die Bundesrepublik ergattert zweimal Bronze.[27]

Die heiteren Spiele

Mit der Stadt München assoziiert die Weltöffentlichkeit in den 70er-Jahren nach wie vor eines: die Hauptstadt der NS-Bewegung. Viele sehen Olympia als Chance, dieses Image loszuwerden. Die ganze Bundesrepublik will sich der Welt in einem anderen Licht präsentieren: friedlich, modern und weltoffen.[28] Und damit ganz anders als bei den NS-Spielen von 1936 in Berlin und Garmisch-Partenkirchen.

„Wir wollen heitere, unpathetische Spiele“ – das Werk von Otl Aicher

Als Gegensatz zur wuchtigen Inszenierung von Olympia 1936 setzen die Veranstalter in München auf heitere Spiele. Dieses Motto zeigt sich nicht nur im verspielt-kreativen Olympiagelände, es zieht sich durchs gesamte Erscheinungsbild. Prägend dafür ist der Designer Otl Aicher, Gestaltungsbeauftragter der Spiele und überzeugter Demokrat.[29]

„Es kommt weniger darauf an, zu erklären, dass es ein anderes Deutschland gibt, als es zu zeigen. Die Welt erwartet eine Korrektur gegenüber Berlin schon deshalb, weil sie seinem Einfluß zum großen Teil erlegen ist.“ [30] 
(Otl Aicher)

Aicher und sein Team entwerfen die Bekleidung der Wettkampfrichter und Hostessen, die Wegweiser für die Gäste, das Maskottchen Waldi und das Olympia-Emblem. Fast überall findet sich ein lichtes Blau wieder – die Farbe der Jugend, des Friedens, des strahlenden Himmels und – so sah es Otl Aicher – die Farbe der oberbayerischen Landschaft, ihrer Seen und ihrer Alpensilhouette.[31]

Jetzt geht’s los - Eröffnungsfeier

Am 26. September 1972 brennt in München das Olympische Feuer.[33]

Als Fackelschlussläufer bei der Eröffnungsfeier – Günter Zahn erinnert sich an diesen Tag

Die Eröffnungsfeier lässt spannende und heitere Sommerspiele erhoffen: Rund 80.000 Menschen im Stadion applaudieren Sportlern aus 122 Nationen – auch den Athleten aus der DDR und der UdSSR. Die Klänge mexikanischer Mariachis mischen sich mit bayerischen Schuhplattlern und 5.000 Friedenstauben fliegen durchs olympische Rund. Die Welt ist begeistert.[34]

Internationale Pressestimmen zur Eröffnungsfeier

 

„Diese Spiele können die Wunden der Vergangenheit heilen.“ 
(New York Times, USA)
„Keine Spur von Militarismus. Das haben die Bayern gut gemacht.“ 
(Observer, Großbritannien)
„Münchner Flower-Power Kinder (...) sind der Geist eines neuerstandenen Deutschland.“ 
(Daily News, USA)
„Die israelische Mannschaft erhielt den lautesten Beifall. Das hat viele überrascht.“  
(Jerusalem Post, Israel)

Spiele mit Niveau: Kulturelles Begleitprogramm

Etwa 1.000 Veranstaltungen in der ganzen Stadt umrahmen die Wettkämpfe in den verschiedensten Formen: Oper, Konzerte, Ballett, Schauspiel, Folklore oder Kunstausstellungen – überall ist etwas geboten.

Und es geht auch unkonventionell zu: Auf der Spielstraße am Ufer des Olympiasees führen Gaukler und Aktionskünstler, Bildhauer und Musiker ein buntes Spektakel auf.[36] Hier wird das Motto der „heiteren Spiele“ besonders gut verkörpert. Das Begleitprogramm ist von langer Hand geplant und mit einer dicken Finanzspritze versehen: Der Etat liegt bei etwa 15 Millionen D-Mark.[37]

Die Wettkämpfe

Weltstars in der Schwimmhalle

Gold, Silber und Bronze – danach streben in München über 10.000 Athleten. Mark Spitz wird zum erfolgreichsten Athleten der Spiele und damit zum Weltstar: Der US-amerikanische Schwimmer ergattert ganze sieben Goldmedaillen. Auch die beste Olympionikin kommt aus der Schwimmhalle: Australierin Shane Gould holt dreimal Gold, einmal Silber und einmal Bronze.[38]

Das Olympiastadion bringt nicht nur deutsche Stars hervor ...

Das geteilte Deutschland tritt 1972 erstmals bei Olympia mit zwei getrennten Mannschaften an. Immer wieder heißt es: BRD gegen DDR.[39] Dieses Duell gewinnt am Ende die DDR: Im Medaillenspiegel stehen 20 Goldmedaillen für die DDR zu Buche, die Bundesrepublik holt 13-mal Gold.[40]

Das deutsche Glamourgirl der Leichtathletik ist Heide Rosendahl. Rund 80.000 Zuschauer jubeln ihr beim Weitsprung zu. Sie hechtet am sechsten Wettkampftag zur allerersten Goldmedaille fürs BRD-Team. Auch als Schlussläuferin der 4x100 Meter holt sie Gold, im Fünfkampf Silber.[41]

... sondern auch bayerische!

Der Franke Klaus Wolfermann startet den „Goldenen Sonntag“ und gewann die Goldmedaille beim Speerwurf. Der Erfolg der bundesdeutschen Athleten ist fast schon legendär: Es gab dreimal Gold für die BRD, und das Ganze in nur einer Stunde.

Olympiastadion, 3. September 1972. Finale im Speerwurf. Der Lette Jānis Lūsis, haushoher Favorit, hat vorgelegt: 89,54 Meter nach dem dritten Durchgang. Jetzt läuft der letzte Durchgang. Klaus Wolfermann aus Altdorf bei Nürnberg sprintet los, schleudert seinen Speer nach vorne – und der schlägt ein, bei 90,48 Metern! Die Zuschauer klatschen euphorisch Beifall. Ist das der Olympiasieg? Der Lette hat noch einen Versuch. Totenstille im Stadion. Lūsis läuft an, wirft – 90,46 Meter. Grenzenloser Jubel. Der Franke hat die Goldmedaille. Und er leitet „den goldenen Sonntag“ der deutschen Leichtathletik ein: Innerhalb der nächsten Stunde holen noch zwei weitere Deutsche Gold: Hildegard Falck im 800-Meter-Lauf und Bernd Kannenberg über 50 km Gehen.[42]

Klaus Wolfermann über den Speerwurf, der ihm die olympische Goldmedaille bescherte.

Wettkampfgerät selbst gemacht: „Conny“ Wirnhier

Bei den deutschen Schützen ist der letzte Wettkampftag angebrochen und noch immer ist das Team ohne Medaille. Dann kommt Konrad „Conny“ Wirnhier. Beim Skeet-Schießen holt er als einziger alle 25 Tontauben vom Himmel. Gold für den Niederbayern aus Pfarrkirchen. Sein Wettkampfgerät hat der gelernte Büchsenmacher vorher selbst gebaut.[43]

Gold verloren, Silber gewonnen: Gewichtheber Rudolf Mang

Der Favorit im Gewichtheben kommt aus dem bayerisch-schwäbischen Bellenberg: Rudolf Mang ist 22 und auf den Tag topfit. Im Training drückt er dreimal problemlos 220 Kilogramm nach oben. Doch dann kommt das Olympia-Attentat. Mangs Wettkampf wird verschoben. „Da bin ich zusammengefallen“, sagt er. Als es für ihn ernst wird, schafft er „nur“ 205 Kilogramm – immerhin Silber.[44]

Ein Münchner jubelt und alle jubeln mit: Paul Barth

Judo-Olympiapremiere, Halbschwergewicht bis 93 Kilogramm: Paul Barth aus München kämpft auf der Matte – und sorgt für eine Überraschung. Mit seinem „Pauli Spezial“, einer Schulterwurftechnik, streckt er vier Gegner nieder: Bronze.[45]

Ende der heiteren Spiele – Olympia-Attentat

„Das Schlimme war, dass damals niemand auf so etwas vorbereitet war, denn die Olympischen Spiele waren als fröhliche Spiele propagiert, und dementsprechend waren die Sicherheitsvorkehrungen.“ 
(Ulrich Wegener, späterer Kommandeur der GSG 9)

 

Heitere Spiele und ein heiteres, entmilitarisiertes Deutschland – schwer bewaffnete Polizisten passen da nicht ins Bild. Das Sicherheitskonzept der Spiele sieht deshalb vor: Der Sicherheitsdienst im Olympischen Dorf ist nicht bewaffnet und nicht uniformiert. Ein folgenschwerer Fehler.[47] 

Bruno Merk, bayerischer Innenminister 1972, über das Sicherheitskonzept der Olympischen Spiele

Eindringlinge im Olympiadorf

5. September 1972, morgens zwischen 4 und 5 Uhr: Die friedliche Ruhe im Olympischen Dorf wird jäh zerstört. Acht schwer bewaffnete Palästinenser der Terrorgruppe „Schwarzer September“ überwinden den lasch bewachten Zaun zum Männerdorf.[48] Ihr Ziel: Conollystraße 31, die Quartiere der israelischen Delegation.[49] Zwölf Olympioniken nehmen sie als Geiseln. Davon kann eine fliehen, zwei werden ermordet.[50]

Verhandlungskrimi mit den Terroristen

Die Terroristen fordern die Befreiung prominenter RAF-Terroristen und von 234 Palästinensern aus israelischer Haft – ihr Ultimatum: 9 Uhr.[51] Das wird in den folgenden Stunden immer wieder verlängert. Ein eilig zusammengerufener Krisenstab verhandelt mit den Terroristen, ist aber zunehmend ratlos – vor allem, als klar ist: Die israelische Regierung geht nicht auf die Forderung der Palästinenser ein.

Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher, Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, der bayerische Innenminister Bruno Merk und der Münchner Polizeipräsident Manfred Schreiber stellen sich selbst als Geiseln zur Verfügung, im Austausch mit den israelischen Gefangenen. Doch die Terroristen lehnen ab, genauso wie ein finanzielles Angebot.[52]

Scharfschützen werden positioniert. Polizisten sollen die Wohnungen ausspähen und so herausfinden, wie viele Attentäter im Innern sind. Die Beamten sind als Köche verkleidet, wollen Kisten mit Essen zu den Geiseln bringen. Aber die Terroristen tragen jede Kiste selbst in die Wohnung.[53] Was tun? Die Mannschaftswohnungen erstürmen? Chemische Mittel gegen die Attentäter einsetzen? All das erscheint zu riskant.[54] 

Das Attentat ist der erste live und weltweit übertragene Terrorakt der Geschichte.[55] Die Kameras zeigen auch die Polizisten auf dem Dach der israelischen Unterkunft. Die Terroristen können das Geschehen mitverfolgen – ein Einsatz muss deshalb abgebrochen werden.[56]

Gegen 17 Uhr fordern die Palästinenser ein Flugzeug – und freien Abzug mit den Geiseln nach Kairo. Innenminister Genscher betritt alleine das Gebäude, spricht mit den Terroristen. Die drohen, Israelis öffentlich zu erschießen. Genscher geht zum Schein auf die Forderung der Palästinenser ein. Ihnen wird in Aussicht gestellt, über den Militärflughafen Fürstenfeldbruck nach Kairo ausgeflogen zu werden.[57] Was die Terroristen nicht wissen: Um kurz vor 21 Uhr lehnt Ägypten den Transport nach Kairo ab. Jetzt ist klar: Die Verhandlungen sind gescheitert.[58] In Abstimmung mit der Bundesregierung, der israelischen Regierung und dem eingeflogenen israelischen Geheimdienstchef entscheidet man sich zum Zugriff.[59]

Showdown auf dem Fliegerhorst in Fürstenfeldbruck

Auf dem Bundeswehrflughafen im nahe gelegenen Fürstenfeldbruck bereiten sich in der Zwischenzeit Beamte der bayerischen Polizei auf einen waghalsigen Einsatz vor: In einer Boeing 727 der Deutschen Lufthansa verkleiden sie sich als Flugbegleiter; am Flughafen postieren sich fünf Scharfschützen. Sie sollen die Terroristen bei oder nach der Inspektion des Flugzeugs überwältigen.[60]

Um 22:22 Uhr[61] fliegen mehrere Hubschrauber von München nach Fürstenfeldbruck. Darin: ein Teil der politischen Einsatzleitung, die Geiselnehmer und ihre Geiseln. Erst jetzt ist klar, um wie viele Terroristen es sich handelt, die Information wird aber nicht an die Einsatzleitung am Fliegerhorst weitergegeben.[62] Auf einen Scharfschützen kommen mehrere Terroristen – eine ungünstige Ausgangslage.[63] Als die Hubschrauber am Nachthimmel von Fürstenfeldbruck zu sehen sind, verlassen die getarnten Polizisten eigenmächtig das Flugzeug. Sie sind sicher: Im bewaffneten Kampf gegen die Palästinenser haben die Polizeibeamten keine Überlebenschance, ihre Mission: ein „Himmelfahrtskommando“.[64]

Nach der Landung inspizieren zwei Terroristen die Boeing. Als sie sie gegen 22:40 Uhr wieder verlassen, fallen Schüsse: Die Scharfschützen haben das Feuer eröffnet – obwohl mindestens zwei Terroristen noch mit den Geiseln in den Hubschraubern sitzen. Ebenfalls fatal: Ein Polizei-Scheinwerfer wirft Schatten, in dem die Terroristen in Deckung gehen.[65] Ein heftiges Gefecht entsteht.[66] Dabei wird die Funkanlage im Tower getroffen. Die Verbindung zur Außenwelt ist abgeschnitten, die Polizei kann keine sofortige Verstärkung rufen.[67] Kurz nach Mitternacht kommt es zur Katastrophe: Ein Hubschrauber wird von einer palästinensischen Granate gesprengt und brennt aus. Letztendlich werden alle neun Geiseln ermordet. Eine fehlgeleitete Kugel tötet einen bayerischen Polizisten. Fünf Attentäter werden getötet, drei festgenommen.[68]

Als Sanitäter im Einsatz: Axel Kaiser

„The Games must go on“

Das Olympia-Attentat versetzt München in eine Schockstarre. Die „Zeit“ schreibt von der „schlimmste(n) Nacht der Bundesrepublik“.[69] Im Kreuzfeuer der Kritik: die Polizeiführung und das zuständige Innenministerium.[70]

Die Spiele sind unterbrochen – allerdings nur für einen einzigen Tag. Bei der Trauerfeier am 6. September 1972 spricht IOC-Präsident Avery Brundage einen umstrittenen Satz, der in die Geschichte eingehen wird: „The Games must go on.“ Man wolle ein Zeichen setzen, sich dem Terror nicht beugen.

Die heiteren Spiele sind aber beendet. Beim Fußballspiel Deutschland gegen Ungarn gleich nach der Trauerfeier herrscht gespenstische Stille – trotz voller Ränge im Olympiastadion.[71] 

Fazit

Der 5. September 1972: ein schwarzer, ein katastrophaler Tag der Olympischen Spiele 1972 in München. Versagen der Sicherheitsapparate, Terror, ermordete Juden auf deutschem Boden – und alles vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Das Olympia-Attentat hat sich tief ins Bewusstsein der Menschen gegraben.

Von den Olympischen Spielen 1972 bleibt trotzdem viel mehr als Schrecken und Trauer. Ein neues Deutschland hat sich da gezeigt, in heiteren Farben, heiteren Menschen, heiteren Wettkämpfen. München hat die Chance der Spiele genutzt: Durch Olympia 1972 konnte die Stadt zur Metropole werden. Die Bauten für Olympia, allen voran das Olympiastadion mit seinem spektakulären Zeltdach, sind architektonische Meisterleistungen und prägen das Münchner Stadtbild bis heute.

Mehr zu Olympia 1972 in der EDITION BAYERN München 72


[1] Vgl. Münchens Olympia-Bewerbung: „Ein Wunder, dass wir die Spiele erhielten“. In: SpiegelOnline vom 10. Dezember 2007. URL: http://www.spiegel.de/einestages/muenchens-olympia-bewerbung-a-950181.html. Zuletzt abgerufen am 19.09.2018.

[2] Hans-Jochen Vogel

[3] Vgl. Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.), München ´72 (Edition Bayern, Sonderheft 2),Augsburg 2010. S. 12.

[4] Vgl. Münchens Olympia-Bewerbung. In: SpiegelOnline.

[5] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 25f.

[6] Vgl. Egger, Simone: „München wird moderner“. Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er-Jahren. S. 326.

[7] EDITION BAYERN, Sonderheft 02, Vorwort.

[8] Vgl. Egger, S.326-328.

[9] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 22f.

[10] Harbeke, Carl Heinz, Bauten für Olympia 1972. München, Kiel, Augsburg, München 1972. S. 9.

[11] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 22f.

[12] Vgl. Harbeke: Bauten für Olympia, S. 9.

[13] Vgl. Harbeke: Bauten für Olympia, S. 10 / EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 26.

[14]

Vgl. „Für Olympia: Anfang der 70er war hier die größte Baustelle Europas.“ In: tz-online.de. 22.11.2013. URL: www.tz.de/muenchen/stadt/milbertshofen-am-hart-ort43344/muenchen-olympia-1972-baustelle-olympiastadion-oberwiesenfeld-bilder-meta-1487615.html. Zuletzt abgerufen am 09.10.2018.

[15] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 26.

[16] Vgl. Olympiapark München, URL: https://www.olympiapark.de/de/der-olympiapark/veranstaltungsorte/olympia-eissportzentrum/ Zuletzt abgerufen am 25.10.2018

[17] Vgl. Günter Klein: „Vor 40 Jahren – die Olympischen Spiele in München.“ In: Münchner Merkur vom 29.08.2012. S. 28.

[18] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 24f.

[19] Vgl. “1964”. URL: https://www.mvg.de/ueber/das-unternehmen/zeitreise.html. Zuletzt abgerufen am 20.9.2018.

[20] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 10.

[21] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 9.

[22]

Vgl. “1971”. URL: www.mvg.de/ueber/das-unternehmen/zeitreise.html. Zuletzt abgerufen am 20.9.2018.

[23] Vgl. Günter Klein: „Vor 40 Jahren – die Olympischen Spiele in München.“ In: Münchner Merkur vom 29.08.2012. S. 28.

[24] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 30f.

[25] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 34.

[26] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 32-34.

[27] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 36-39.

[28] Vgl. Erik Eggers: Wie München den Zuschlag für die Olympischen Spiele 1972 bekam. In: Deutschlandradio.

[29] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 44-47, Kinast S. 13.

[30] EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 46.

[31] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 44-47. Kinast S. 13.

[32]

Vgl. Ein Orden für Königin Silvia. In: Spiegel Online vom 18.7.2017. URL: www.spiegel.de/panorama/leute/koenigin-silvia-von-schweden-bekommt-bayerischen-verdienstorden-a-1158605.html. Zuletzt aufgerufen am 09.10.2018.

[33] Vgl. Haus der Bayerischen Geschichte: Zeitzeuge Günter Zahn. URL siehe oben.

[34] Vgl. Kinast, S. 14.

[35] Alle Zitate entnommen von Kinast, S. 14.

[36] Vgl. Kinast, S. 18.

[37] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 50f.

[38] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 60.

[39] Vgl. ebd.

[40] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, Medaillenspiegel.

[41] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S.70. Kinast, S. 14.

[42] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 71.

[43] Vgl. Kinast, S. 14. / „Damals in München hat alles gepasst.“ Süddeutsche Zeitung vom 14.08.1997 / „Olympia-Tagebuch.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.03.1997/ EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 61.

[44] Vgl. Putzing, Peter: „Bei Olympia brechen Rudolf Mangs Wunden wieder auf.“ DDP, 02.08.1992.

[45] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 61, 63.

[46]

BR-Interview mit Ulrich Wegener am 14.11.2000, online unter: www.br.de/mediathek/video/alpha-forum-ulrich-wegener-ehemaliger-kommandeur-der-gsg-9-av:5a4cfeaf62186f0018e6785e. Zuletzt abgerufen am 01.10.2018.

[47] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 74.

[48] Vgl. Oberloskamp, Eva, Das Olympia-Attentat 1972, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 60 (2012/3), S. 323 / Dahlke, Matthias, Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus, S. 62.

[49] Vgl. Kinast, S. 20. / Dahlke, S. 62 / EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 74.

[50] Vgl. Kramer, Ferdinand: Das Olympia-Attentat. In: Von der Vision zur Realisation. Der Erinnerungsort Olympia-Attentat 1972 von Fürstenfeldbruck. S. 38.

[51] Vgl. Oberlosenkamp S. 323, Sonderheft München ´72, S.75., Kramer S. 38.

[52] Vgl. Oberlosenkamp, S. 323f.

[53] Vgl. Dahlke, S. 64

[54] Vgl. Oberlosenkamp, S. 323f.

[55] Vgl. Gertz, Holger: „Denkt daran“. In: Süddeutsche Zeitung vom 07.09.2017. S. 3.

[56] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 48.

[57] Vgl. Dahlke, S. 64.

[58] Vgl. Dahlke, S. 66.

[59] Vgl. Kramer, S. 38.

[60] Vgl. Oberlosenkamp, S. 325.

[61] Vgl. Dahlke, S. 66.

[62] Vgl. Dahlke, S. 67.

[63] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 76.

[64] Vgl. Oberlosenkamp, S. 325 / EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 76.

[65] Vgl. Oberlosenkamp, S.325f.

[66] Vgl. Dahlke, S.68.

[67] Vgl. ebd.

[68] Vgl. Kramer, S. 40.

[69] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 76.

[70] Vgl. EDITION BAYERN, Sonderheft 02, S. 74.

[71] Vgl. Kinast, S. 20.

Medaillenspiegel Olympia 72

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