Fakten, Trends, Probleme

Die nachfogende Kurzzusammenfassung gliedert sich in folgende Themen:

- Fakten
- Der Anteil der Neubürger in Industrie und Gewerbe
- Geistige Integration und Traditionsbewusstsein
- Medien und Neubürger
- Emigration - Vertreibung - Integration als historische Phänomene

Fakten
Nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 lebten in den deutschen Ostgebieten des Reiches, die 1945 verloren gingen, sowie in den Staaten Ostmitteleuropas, Osteuropas und Südosteuropas etwa 15,03 Millionen Deutsche, zu denen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch 1,8 Millionen Zugezogene und Umgesiedelte hinzukamen. Diese Gesamtzahl von fast 17 Millionen Deutschen in diesen Regionen verteilte sich auf folgende Staaten:
Deutsche Ostgebiete 9 075 000
Danzig 388 000
Polen 2 370 000
Tschechoslowakei 3 496 000
Baltische Staaten
und Memelland 100 000
Ungarn 548 000
Rumänien 498 000
Jugoslawien 435 000

Von dieser Gesamtzahl kamen im Zuge der Flucht vor der Roten Armee und der wilden wie planmäßigen, wenn auch nicht ordnungsgemäßen Vertreibungen 7,9 Millionen in die Bundesrepublik Deutschland, 4,065 Millionen in die Deutsche Demokratische Republik, 370 000 nach Österreich und 115 000 in andere Staaten. Von diesen insgesamt 12,54 Millionen Menschen, die zwischen 1945 und 1950 ihre Heimat verloren, nahm Bayern 1 929 263 auf und stand damit, gefolgt von Niedersachsen, an der Spitze der deutschen Aufnahmeländer (vgl. Karte). Gemessen an der Gesamtbevölkerung Bayerns betrug der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen etwa 21 Prozent gegenüber 27 Prozent in Niedersachsen und 31 Prozent in Schleswig-Holstein. Nach den Herkunftsgebieten (vgl. Karte) waren in Bayern die Sudetendeutschen aus Böhmen, Mähren und der Slowakei als Nachbarn und teilweise Stammverwandte der Bayern mit 1 025 205 die stärkste Vertriebenengruppe, gefolgt von 458 860 Schlesiern. Alle anderen Neubürger aus den deutschen und europäischen Vertreibungsgebieten blieben jeweils weit unter 100 000, wobei die Ostpreußen immerhin mit 87 370 Personen vertreten waren. Zahlenmäßig folgten die Deutschen aus Jugoslawien (66 736), Ungarn (49 164), Polen (48 486), Rumänien (45 917), Pommern (34 476), Brandenburg (13 713), Danzig (111 66), aus der Sowjetunion (10 632) und aus den Baltischen Staaten (8 761). Nach Geschichte, Tradition und kultureller Prägung waren es also sehr unterschiedliche Menschen deutscher Zunge, ganz gleich, ob sie vom preußischen Staatsbewusstsein nachhaltig geformt waren, ob sie die Schicksale der Sowjetunion und des alten Russland miterlebt oder erlitten hatten, ob sie, wie in Siebenbürgen und im Banat, inmitten anderer Nationen eine reiche Sonderkultur entfalten konnten oder ob sie sich zwischen katholischen Kroaten, orthodoxen Serben und bosnischen Muslimen zu behaupten hatten. Es war daher eine berechtigte bange Frage, ob diese Fülle anderer Lebenswelten einer wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Integration eher hinderlich sein würde oder einen Zugewinn bedeutete. Sicherlich gab es verschiedene Grade der Integrationsfähigkeit und sicher war es insgesamt für den sich demokratisch erneuernden bayerischen Staat keine leichte Aufgabe, diese Integration ohne kulturelle Nivellierung in die Wege zu leiten. Aufschlussreich ist die 1950 ermittelte Verteilung der Neubürger auf die einzelnen Landkreise Bayerns (vgl. Karte), denn Oberbayern steht hier mit 25,8 Prozent der Gesamtbevölkerung an der Spitze, was ebenso mit dem rasch wachsenden Industriepotenzial dieser Region zusammenhängt wie auch mit Münchens Rolle als Zentrum der Intelligenz und politischen Führungsschicht der Vertriebenen. Es folgen Schwaben und der industrielle Ballungsraum Augsburg mit 17,2 Prozent, Oberfranken mit 13,7, Mittelfranken mit nur 12,1 Prozent, obwohl es die Industriestadt Nürnberg beherbergt, und Unterfranken mit 9,1 Prozent der Bevölkerung. Parallel zur Veränderung der Industriekarte Bayerns ist auch die Umwandlung einer aus historischen Gründen relativ klar strukturierten Konfessionskarte Bayerns mit den katholischen Kerngebieten Altbayerns, der Oberpfalz und Unterfrankens festzustellen. Es wirkte sich seit 1945 aus, dass zwar auch bei den Vertriebenen 70,8 Prozent katholisch, 27,9 Prozent evangelisch und immerhin 17,9 Prozent konfessionslos waren und damit die quantitative Verschiebung der jeweiligen konfessionellen Anteile wegen des hohen Anteils der katholischen Sudetendeutschen und eines Teils der Schlesier nicht so gravierend ausfiel, wie man auf den ersten Blick vermuten möchte. Dennoch war der Wandel beträchtlich, weil nunmehr in den einst konfessionell relativ einheitlichen Regionen der Anteil der anderen Konfession in einem Maße an- stieg, dass man nicht mehr nur von einer "Diaspora-Situation" sprechen kann. In den meisten Orten entstanden neue Kirchengemeinden der jeweils zahlenmäßig schwächeren Konfession und damit ergaben sich auch zwangsläufig neue und zumeist bessere Umgangsformen miteinander. Letzteres dürfte auch eine Hauptursache dafür sein, dass 1968 ein Volksbegehren zur Einführung der christlichen Gemeinschaftsschule in Bayern durchschlagenden Erfolg haben konnte. Der Anstieg der konfessionslosen Bevölkerung Bayerns hing ebenfalls vom verstärkten Zustrom Vertriebener und Flüchtlinge aus den industriellen Ballungszentren Schlesiens und Nordböhmens ab.

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Der Anteil der Neubürger in Industrie und Gewerbe
Der Anschub industrieller Arbeit, der dann in das bundesdeutsche "Wirtschaftswunder" der 50er und 60er Jahre mündete, bewirkte unter anderem auch, dass bereits 1950 49 Prozent aller Neubürger im verarbeitenden Gewerbe und im Bau- und Ausbaugewerbe Arbeit fanden. Da in Bayern damals nur 36,5 Prozent in diesen Gewerben tätig waren, veranschaulichen diese Zahlen eindrucksvoll den überdurchschnittlichen Anstieg der Erwerbstätigkeit durch die Neubürger. Hingegen war der Anteil der beruflich Selbstständigen unter den Neubürgern gravierend abgesunken und konnte oft erst in der nächsten Generation wieder ausgeglichen werden. Der Wandel industrieller Arbeit hatte auch eine qualitative Seite. Negativ wirkte er sich insofern aus, als nur ein geringer Prozentsatz der Bauern aus den Vertreibungsgebieten seinen Beruf weiter ausüben konnte, vielmehr in den industriellen Sektor überwechselte, meist unter sozialen Statuseinbußen. Positiv war hingegen, dass zwar Flüchtlinge und Vertriebene in den Anfangsjahren eine ihnen fremde Erwerbstätigkeit annehmen und dies als soziale Deklassierung empfinden mussten, es ihnen aber bald durch eine gezielte Industriepolitik und durch den Beginn des "Wirtschaftswunders" gelang, ihre ursprüngliche industrielle Berufsarbeit wieder auszuüben. Dies galt besonders für Personengruppen, die in der Schwerindustrie, im Bergbau, im Textilgewerbe, in der Strumpfwirkerei, der chemischen Industrie, der Feinkeramik, der Glasindustrie und im Musikinstrumentenbau arbeiteten, also in Berufssparten, die sie aus der alten Heimat mitgebracht hatten.

Einzelfragen
Mit dem rasch anwachsenden industriellen Sektor hängt es auch zusammen, dass sich das anfangs gerade in Bayern beträchtliche Gefälle zwischen Alt- und Neubürgern hinsichtlich Ausbildung und Bildung allmählich einzuebnen begann. Das hoch entwickelte, teilweise industriebezogene und daher sehr differenzierte Schulwesen der Sudetendeutschen und der Schlesier hatte zu diesem Gefälle ganz entscheidend beigetragen. Ein noch höheres Qualifikationspotenzial hatte jene Bevölkerungsgruppe, die aus politischen wie ökonomischen Gründen in einer zweiten Auswanderungswelle die sowjetische Besatzungszone (SBZ) und spätere DDR verlassen hatte. Es war dies jedoch im Unterschied zu der vertriebenen Gesamtbevölkerung der Ostgebiete eine spezifische Auswahl besonders aktiver und daher motivierter Personen mit überdurchschnittlicher Berufsausbildung, der der Neueinstieg in Wirtschaft und Industrie auf Grund dieser Voraussetzungen sehr gut gelang. Vermutlich spielte dabei auch eine Rolle, dass diese Emigrationsgruppe oft in der Lage war Geld- und Sachwerte mitzunehmen, was ihre beruflichen Startchancen zweifellos erhöhte. Politische Gründe waren schließlich die Ursache dafür, dass sich im staatlichen Bereich, bei Beamten und Angestellten, ein Trend zur proportionalen Berücksichtigung der Neubürger durchsetzte, der sogar dazu führte, dass diese schließlich auf allen Ebenen überproportional vertreten waren. Vermutlich spielte dabei eine Rolle, dass zwischen 1950 und 1970, also in der expandierenden Phase des "Wirtschaftswunders", staatliche Karrieren mit ihren notorisch niedrigen Eingangsgehältern weniger attraktiv waren als wirtschaftliche Erwerbstätigkeit. Demgegenüber war für die Neubürger auf Grund ihres Schicksals der Trend zu sicheren Berufssparten größer, mochten auch die Gehälter im Allgemeinen hier bescheidener sein. Aufschlussreich ist auch die Entwicklung der Heiratsbeziehungen zwischen Alt- und Neubürgern, die in den Anfangsjahren von einer relativ starken Reserve gegenüber der jeweils anderen Gruppe bestimmt waren. Bis 1971 wurden 11,6 Prozent der Ehen in Bayern zwischen Vertriebenen und Flüchtlingen, also im Milieu des gemeinsamen Schicksals vor und nach 1945, geschlossen sowie - entsprechend dem absoluten Zahlenanteil dieser Gruppe - 1,2 Prozent zwischen SBZFlüchtlingen, während 69,9 Prozent der Ehen zwischen Einheimischen verzeichnet wurden. Der Anteil der Heiraten zwischen Einheimischen und Vertriebenen betrug 14 Prozent, lag also um 3,6 Prozent über den Heiraten der Neubürger untereinander. Tendenziell kann man feststellen, dass mit den Jahren die Ehen zwischen Alt- und Neubürgern zunahmen, weil sich mit dem wachsenden sozialen Ausgleich zwischen beiden Gruppen auch die Rahmenbedingungen für eine Ehe verbesserten und beiderseits vorhandene Vorurteile abgebaut worden waren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Heiratsverhalten der Altbürger gegenüber den Neubürgern aufgeschlossener war als umgekehrt. Einen wesentlichen Anteil bei der mentalen Integration hatten zweifellos die Kirchen, die in einem wichtigen, ja existenziellen Bereich ein neues Heimatgefühl vermitteln konnten und sich zudem für die Berufschancen oft als einflussreich erwiesen. Auch im Wohnungsbau für Neubürger wetteiferten die Kirchen erfolgreich mit den Kommunen und den Gewerkschaften. Eine Gesamtdarstellung dieser bedeutsamen Integrationsleistung steht noch aus.

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Geistige Integration und Traditionsbewusstsein
Für die katholischen Sudetendeutschen hat die unermüdliche Arbeit der "Ackermann-Gemeinde" paradigmatische Bedeutung, deren Begründer, der CSU-Abgeordnete Hans Schütz, als bayerischer Minister für Arbeit und Sozialordnung (1962-1966) an entscheidender Stelle Wichtiges für die Vertriebenen erreichen konnte. Darüber hinaus war und ist die "Ackermann-Gemeinde" bahnbrechend für die geistige Neuanknüpfung mit der alten Heimat, das heißt mit der Tschechoslowakei bzw. Tschechien, im Zeichen der Versöhnung und Zusammenarbeit tätig. In ähnlicher Weise wirkt auch die "Seliger-Gemeinde" als Zusammenschluss der sudetendeutschen Sozialdemokraten. Letztere hatten überdies einen bedeutenden Anteil am Aufbau der sozialdemokratischen Parteiorganisationen außerhalb der bayerischen Großstädte. Der Sudetendeutsche Volkmar Gabert (geb. 1923) stieg 1963 bis 1972 sogar zum Landesvorsitzenden der bayerischen SPD auf, die unter ihm die bislang größten Wahlerfolge erzielen konnte. Was die mentale Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen anbetrifft, so wird im öffentlichen Bewusstsein viel zu wenig wahrgenommen, welch großen Anteil die Landsmannschaften, vorab die der Sudetendeutschen und Schlesier, aber auch der Ostpreußen und anderer Gebiete, an diesem entscheidenden Prozess hatten. Sie waren es, die vor allem in den hoffnungslosen, chaotischen Anfangsjahren, in denen die Neubürger vielfach unter dem Gefühl der Isolation und sozialer Deklassierung litten, aus dem Bewusstsein des gemeinsamen Schicksals neue Kraft, Hoffnung und neues Selbstbewusstsein zu entwickeln wussten. Das verhinderte den Absturz von Millionen in einen gefährlichen antistaatlichen Negativismus, wie er anderswo ein gefahrenreiches Dauerproblem geblieben ist. In keiner Phase haben sich die Flüchtlinge und Vertriebenen zu Handlangern des radikalen Umsturzes manipulieren lassen, ein Verdienst, an dem - neben dem Gelingen der wirtschaftlichen und sozialen Integration - die Landsmannschaften einen entscheidenden Anteil hatten.

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Medien und Neubürger
Wie wichtig diese Wiedergewinnung eines landsmannschaftlichen Selbstbewusstseins war, zeigt ein Blick auf die Medien in der Nachkriegszeit, die aus verschiedenen Gründen die Flüchtlinge und Vertriebenen anfangs mit Argwohn registrierten. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die letztlich erfolglose amerikanische Sonderverordnung vom 31. Januar 1946, dass anstelle des Wortes "Vertriebener" die degradierende Bezeichnung "Ausgewiesener" verwendet werden solle. Ab dem 12. Mai 1945 versorgte "Radio München" als Sprachrohr der amerikanischen Militärregierung die Bevölkerung mit Informationen, Kommentaren, Reportagen und Berichten aus dem neu entstandenen kulturellen Leben, wobei jeder Beitrag von einem Presseoffizier genehmigt werden musste. Bei den Zeitungen und Zeitschriften gab es hingegen keine Vorzensur, wenn auch gerade im Bereich der von der Besatzungsmacht lizenzierten Presse der Gesichtspunkt der politischgesellschaftlichen "Umerziehung" (reeducation) in den ersten Nachkriegsjahren eine maßgebliche Rolle spielte. Der Aufbau eines Pressewesens der Vertriebenen ließ auf sich warten, da seit dem Frühjahr 1946 für diesen Personenkreis ein Koalitionsverbot bestand, die Bildung eigener politischer Organisationen somit verboten war und daher auch keine Presselizenzen beantragt werden konnten. Dieses Verbot lockerte sich erst, als ab Juli 1948 und ganz offensichtlich unter dem Eindruck des Kalten Krieges Zusammenschlüsse der Neubürger zugelassen wurden. Ab diesem Zeitpunkt gab es auch bei den größeren Zeitungen Beilagen für Flüchtlinge und Vertriebene und allmählich entwickelte sich eine eigene Flüchtlingspresse der Landsmannschaften wie der politischen Parteien, die dieses Wählerreservoir umwarben. Parallel dazu entstand eine "Abteilung für Ostfragen" im Bayerischen Rundfunk unter der Leitung von Dr. Herbert Hupka, die seit 1949 über die Heimatgebiete der Neubürger, über deren Brauchtum und Kultur berichtete, sich aber weitgehend jeder politisch relevanten Stellungnahme zum Problem der Vertreibung wie der Integration der Neubürger in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft enthielt. Andererseits wiesen alle Medien nachdrücklich auf die Notlage dieses Bevölkerungsteils hin, organisierten Hilfsaktionen und suchten nach Möglichkeiten Missverständnisse und Reibungsflächen zwischen Alt und Neubürgern zu beseitigen. Dabei standen die durchweg schlechten Wohnverhältnisse der Neubürger in Massenquartieren und in den ersten Jahren auch die schlechte Beschäftigungslage im Vordergrund des Interesses. Seit 1948, als die Vertriebenen erstmalig als Wähler aktiv am politischen Leben teilnehmen konnten, spielte es in der öffentlichen Diskussion auch eine Rolle, ob die Neubürger sich in einer eigenen Flüchtlingspartei organisieren oder in den traditionellen demokratischen Parteien ihre Interessen vertreten sollten. Letztlich setzte sich die zweite Alternative durch, was zweifellos dem politischen Klima der Bundesrepublik bzw. Bayerns zugute kam und überdies den Willen zur Integration ohne Wenn und Aber verstärkte. Ungeachtet der Tatsache, dass die Besatzungsmacht der "Süddeutschen Zeitung" zwischen dem 23. Juni und 22. Juli 1946 als Strafe für einen scharfen Artikel Werner Friedmanns über die Vertreibung der Sudetendeutschen und das verbrecherische Vorgehen der tschechischen Machthaber eine Reduktion des Umfangs auf vier Seiten auferlegte, waren die lizenzierten Medien und Radio München in wesentlichen Punkten hinsichtlich der Flüchtlingsproblematik doch einer Meinung: Man wollte die Vertriebenen und Flüchtlinge nicht zu einem eigengesetzlichen Faktor des politischen Kräftespiels werden lassen. Inwieweit dies eine mittelbare Folge der Kontrollratsanweisung Nr. 2 vom 4. September 1945 gewesen ist, wonach jede Kritik an Entscheidungen der Siegermächte untersagt wurde, bleibe dahingestellt. Der Ausbruch des Kalten Krieges brachte hier wie in anderen Bereichen einen entscheidenden Umschwung im Verhalten der Besatzungsmacht. Lebhaftes Interesse fanden bei den Medien die Stadtneugründungen und industriellen Neuansiedlungen aus Initiative der Vertriebenen: Insgesamt kann man es als einen indirekten Indikator der nun einsetzenden und greifenden Integration ansehen, dass seit den 50er Jahren die Berichterstattung über Flüchtlinge und Vertriebene allgemein merklich zurückging und sich der damit verbundene Themenkreis zunehmend auf die Vertriebenenblätter und Heimatzeitungen beschränkten, wo er zumeist im Sinne einer nostalgischen Erinnerungskultur gepflegt wurde. Offen bleibt die generelle Frage, in welcher Weise die traditionelle Kultur der Vertriebenen über die Erlebnisgeneration hinaus erhalten und gepflegt werden kann, doch sind sich alle verantwortungsbewussten Bürger darin einig, dass die Pflege dieser wertvollen Traditionen keinen ideologischen Ansatzpunkt für nationalistische Tendenzen abgeben darf. Zu schrecklich sind die Erfahrungen, die alle Deutsche als Täter wie als Opfer mit der geistigen Pestilenz eines aggressiven Nationalismus und Chauvinismus gemacht haben, Phänomenen, die nichts mit einem legitimen bodenständigen Patriotismus zu tun haben.

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Emigration - Vertreibung - Integration als historische Phänomene
Wenden wir am Schluss den Blick vom konkreten Thema in die Weite und Tiefe geschichtlichen Lebens und stellen fest, dass Emigrationen -ganz gleich, ob sie freiwillig erfolgten oder durch Massenvertreibungen erzwungen wurden - positive Wirkungen haben können, mag dies auch wegen des erfahrenen Leides um den Verlust der Heimat widersinnig erscheinen. Man könnte eine Geistes- und Kulturgeschichte Europas als Geschichte von Emigrationen ganzer Völker oder gesellschaftlicher und ethnischer Gruppen schreiben, die ihrer neuen Heimat zum Segen gereichten. Weltgeschichtliches Paradigma für die Auswirkung von Emigrationen und Vertreibungen ist für alle Zeiten die Zerstreuung des jüdischen Volkes nach der Zerstörung Jerusalems durch den römischen Kaiser Titus im Jahr 70 n. Chr. Es war zweifellos ein schreckliches Ereignis, aber seine weit reichenden kulturellen Folgen für Europa sind unübersehbar. Ebenso wurde es für die deutsche Geschichte schicksalhaft, dass die Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich im Jahr 1685 die deutsche Wirtschaft und Kultur ungemein bereicherte. Gleiches gilt für die böhmischen Exulanten nach der Schlacht amWeißen Berg 1620, die der deutschen religiösen wie kulturellen Entfaltung bedeutende geistige Energien zuführten, die einer neuen pietistischen Seelenkultur zugute kamen. Emigrationen - so betrachtet - verliehen der europäischen Entwicklung gleichsam eine reale innere Dialektik von Bestehendem und Neuem. Unter diesem Aspekt gewinnt das schmerzliche und schreckliche Phänomen von Flucht und Vertreibung nach 1945, dessen Gewaltsamkeit keinesfalls heruntergespielt werden soll, eine andere und letztlich versöhnlichere Bedeutung. Die furchtbaren Unbegreiflichkeiten der Geschichte hatte wohl auch der Kirchenvater Augustinus im Auge, als er meinte, dass "Gott auch auf krummen Zeilen gerade schreiben könne": ein tröstliches, geistreiches und letztlich optimistisches Wort.

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