Die „Gastarbeiter“ im Wirtschaftswunderland

Das „Wirtschaftswunder“, also der starke wirtschaftliche Aufschwung in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren, veränderte die Bundesrepublik Deutschland auch gesellschaftlich nachhaltig. Die Ankurbelung der Produktion auf der einen und die Abschottung der DDR auf der anderen Seite sorgten für einen Mangel an Arbeitskräften, der im Land selbst nicht gedeckt werden konnte. Ab Mitte der 1950er-Jahre wurden deshalb Arbeitskräfte im Ausland angeworben. Aufgrund einer sehr hohen Arbeitslosenquote hatten gleichzeitig aber auch die Anwerbeländer ein großes Interesse daran, Arbeitskräfte abzugeben.

Das erste Anwerbeabkommen, das 1955 mit Italien geschlossen wurde, diente auch außenpolitischen Zielen, da sich die noch junge Bundesrepublik zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs davon einen Imagegewinn im Ausland versprach. In den Jahren darauf folgten weitere Abkommen, bei denen die ökonomischen Interessen deutlich im Vordergrund standen: mit Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). In Folge der so genannten Ölkrise und der sich eintrübenden Wirtschaftslage verfügte die Bundesregierung am 23. November 1973 einen Anwerbestopp. Der Zustrom von weiteren Arbeitskräften aus Nicht-EG-Staaten, vor allem der Türkei, sollte nun unterbunden werden. 2,6 Millionen „Gastarbeiter“ waren am Ende der Anwerbephase in der Bundesrepublik beschäftigt. Insgesamt waren bis zu diesem Zeitpunkt etwa 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte in die Bundesrepublik gekommen, elf Millionen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Die anderen blieben und holten ihre Familien nach.

Der Begriff „Gastarbeiter“ stand für die Vorstellung, dass die Arbeitskräfte nach Erfüllung ihres Arbeitsvertrags wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden. Auch sie selbst wollten in erster Linie Geld verdienen, um ihren Familien in der Heimat ein besseres Leben zu ermöglichen. Deshalb entwickelten weder sie noch staatliche Stellen Strategien zur Integration.

Die Situation der Neuankömmlinge war alles andere als leicht: Die Trennung von ihren Familien und die oft ablehnende Haltung der Mehrheitsgesellschaft führte zu großen emotionalen Entbehrungen und psychischen Belastungen. Hinzu kamen meist körperlich schwere Arbeit in der Industrie, gesundheitliche Probleme, schlechte Wohnbedingungen und ein karger Lebensstandard, den viele Einheimische für sich selbst nicht mehr hinnehmen wollten. Dennoch haben sich rückblickend die Hoffnungen vieler „Gastarbeiter“ auf ein materiell besseres Leben erfüllt. Profitiert haben auch die Wirtschaft, die auf engagierte Arbeitskräfte bauen konnte und die Gesellschaft, die, im Vorgriff auf die Globalisierung, kulturell vielfältiger und weltoffener geworden ist.