Alemannisch



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Sanctus Paulus
(MP3, ca. 870Kb)


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Das Alemannische wurde im Gebiet zwischen Straßburg und dem Bodensee gesprochen. Schriftliche Zeugnisse aus der Zeit Heinrichs II. sind die religiösen Texte "Memento mori" und das Gleichnis "Christus und die Samariterin". Von dem Autor Notker III. stammen kommentierende Übersetzungen antiker Werke.



Sanctus Paulus (Original)



Sanctus Paulus (Übersetzung)

Prologus teutonice

Sanctus paulus kehîez tîen. dîe insînên zîten uuândon des sûonetagen. táz er êr nechâme. êr romanum imperium zegîenge. únde antichristus rîchesôn begóndi.
Uuér zuîuelôt romanos íu uuésen állero rîcho hêrren. únde íro geuuált kân zeénde dero uuérlte?
Sô dô mánige líute énnônt tûonouuo gesézene. hára úbere begôndôn uáren. únde ínállên dísên rîchen keuuáltigo uuíder romanis sízzen. tô íu stûonden íro díng slîfen. únde zedéro tîlegúngo râmen. tîa uuír nû sehên.
Tánnân geskáh pi des chéiseres zîten zenonis. táz zuêne chúninga nórdenân chómene. éinêrímo den stûol zeromo úndergîeng. únde álla italiam. ánderêr náhor ímo greciam begréif. únde díu lánt. tíu dánnân únz zetûonouuo sínt.
Énêr hîez in únsara uuîs ôtacher. tíser hîez thioterih.
Tô uuárd táz ten chéiser lústa. dáz er dioterichen uríuntlicho zehóue ládeta. tára zedero mârun constantinopoli. únde ín dâr mít kûollichên êron lángo hábeta. únz er ín dés bíten stûont. táz er ímo óndi. mít ótachere zeuéhtenne. únde úbe er ín úber uuúnde. romam ióh italiam mít sînemo dánche zehábenne.
Táz úrlub káb ímo zeno. sîn lánt. ióh sîne líute. zesînên tríuuôn beuélehendo.
Sô dioterih mít témo uuórte zeitalia chám. únde er ôtaccheren mít nôte guán. únde ín sâr dára nâh erslûog. únde er fúre ín des lándes uuîelt. tô netéta er zeêrest nîeht úber dáz. sô demo chéisere lîeb uuás.
Sô áber nâh ímo ándere chéisera uuúrten. tô begónda er tûon. ál dáz in lústa. únde dîen râten án den lîb. tîe ímo dés neuuâren geuólgig.
Fóne díu slûog er boetium. únde sînen suêr symmachum. únde dáz óuh uuírsera uuás. iohannem den bâbes.
Sâr des ánderen iâres. uuárt thioterih ferlóren. sîn néuo alderih zúhta das rîche zesíh.
Romanum imperium hábeta îo dánnan hína ferlóren sîna libertatem.
Áber dóh gothi uuúrten dánnân uertríben fóne narsete patricio. sub iustino minore.
Sô châmen áber nórdenan langobardi. únde uuîelten itali. mêr dánne ducentis annis.
Nâh langobardis franci. tîe uuír nû héizên chárlinga. nâh ín saxones.
Sô íst nû zegángen romanvm imperivm. nâh tîen uuórten sancti pauli apostoli.

Sanctus Paulus (der heilige Paulus) verhieß denjenigen, welche zu seinen Lebzeiten den Tag des Jüngsten Gerichts erwarteten, dass er nicht eher käme, als bis das romanum imperium (römische Reich) unterginge und der antichristus (Antichrist) zu herrschen begönne.
Wer zweifelt daran, dass die Römer einst die Herren über alle Reiche waren und ihr Herrschaftsgebiet bis an das Ende der Welt reichte?
Als damals viele Völker, die jenseits der Donau ansässig waren, sich aufmachten jene zu überschreiten und in allen diesen Reichen sich den Römern gewaltsam zu widersetzen, da begannen schon deren Vormachtstellungen zu fallen und sich dem Untergang zu nähern, welchen wir hier nun erkennen.
Im Folgenden ereignete sich zu Lebzeiten des Kaisers zenonis (Zeno), dass von den zwei Königen, die von Norden gekommen waren, der eine sich des Throns in Rom bemächtigte und ganz italiam (Italiens) und der andere noch weiter ganz greciam (Griechenland) an sich raffte und diejenigen Länder, welche von da aus bis an die Donau reichten.
Der eine hieß in unserer Sprache Ôtacher, der andere hieß Thioterih.
Es begab sich dann, dass der Kaiser danach begehrte, den Thioterih freundschaftlich an seinen Hof zu laden, dorthin in die berühmte (Stadt) constantinopolis (Konstantinopel), und ihn mit reichlichen Ehren so lange bei sich zu halten, bis dieser (schließlich) anfing ihn darum zu bitten, dass er es ihm vergönnte, mit Ôtacher zu kämpfen, und dass er, sollte er ihn besiegen, romam (Rom) und italiam (Italien) mit seiner Zustimmung erhielte.
Das Einverständnis gab ihm Zeno, wobei er sein Land und auch seine Leute seiner Verantwortung anbefahl.
Als Thioterih mit dieser Zusage nach Italien kam und er Ôtacher gewaltsam bezwang und sogleich erschlug und als er an dessen Stelle über das Land herrschte, da handelte er anfangs niemals gegen das, was des Kaisers Wunsch war.
Nachdem aber nach ihm andere Kaiser geworden waren, da begann er nach seiner Willkür zu handeln und denjenigen nach dem Leben zu trachten, die ihm dabei nicht folgsam waren.
Von daher tötete er boetium (Boethius) und seinen Schwiegervater symmachum (Symmachus) und, was überdies schlimmer war, iohannem (Johannes) den Papst.
Schon im folgenden Jahr war Thioterih verloren; sein Neffe Alderih riss die Herrschaft an sich. Das romanum imperium hatte infolge dieser Ereignisse seine libertas (Selbständigkeit) für immer verloren.
Aber auch die gothi (Goten) wurden von dort vom narsete patricio (Narses dem Feldherrn) sub iustino minore (unter Justinus dem Jüngeren) vertrieben.
Dann kamen wiederum vom Norden die langobardi (Langobarden) und herrschten über italia (Italien) mehr als ducentis annis (zweihundert Jahre).
Nach den langobardi (Langobarden) kamen die Franken, die wir nun ’charlinga’ (Karolinger) nennen, und nach diesen die saxones (Sachsen).
So ist nun das romanum imperium untergegangen – nach den Worten des sancti Pauli apostoli (heiligen Apostel Paulus).


Edition: Die Werke Notkers des Deutschen. Neue Ausgabe. Begonnen von Edward H. Sehrt und Taylor Starck. Fortgesetzt von James J. King und Petrus W. Tax. Bd. 1, (Boethius, Cons. phil. I, prologus teutonice), Tübingen 1986, S. 5f.